ZWISCHEN REALITÄT
UND KRISTALLKUGEL
Wie die Digitalisierung Gewohntes über den Haufen werfen wird
Digitalisierung und Künstliche Intelligenz nehmen den Menschen das Denken nicht aus der Hand. Sie können aber nützliche Hilfsmittel sein. Sie unterstützen bei komplexen Abläufen, sie helfen zu koordinieren und zu optimieren und sie reduzieren die körperliche Arbeit. Wer die Digita- lisierung beherrscht, kann daraus umfassenden Nutzen ziehen.
Das Zauberwort Digitalisierung wird meist in einem Atemzug mit dem Wort Revolution genannt. Wenn das wirklich so ist, dann ist es eine Revolution, die sich einschleicht – oder besser gesagt längst eingeschlichen hat – und deren Auswirkungen und Folgen vielfach auch nur erahnt werden können. Ansätze der Digitalisierung in Form der Automatisierung gibt es ja schon lange. Dennoch: Digitalisierung ist nochmals etwas ganz anderes, geht viele Schritte weiter, sehr anschaulich nachvollziehbar am Beispiel des neuen voestalpine-Drahtwalzwerkes in Donawitz. Die Fertigung der Drähte erfolgt dort über elf verschiedene Walzwege bei Durchlaufgeschwindigkeiten von bis zu 400 Stun- denkilometern. Gesteuert wird die 700 Meter lange Anlage über ein innovatives Monito- ring-System mit mehr als 2 000 datenerfassenden Sensoren und über 15 000 kontinuierlich aufgezeichneten Parametern, auf deren Basis das Werk sich permanent optimiert.
Die Komplexität der digitalen Welt wird hier auf einmal sichtbar. Wie sie hilft, unglaublich komplexe Abläufe fehlerlos zu bewältigen, lange Wertschöpfungsketten in Verbindung mit Qualitäts- und Effizienzoptimierung zu koordinieren. Wer das beherrscht, zieht umfassenden Nutzen aus der Digitalisierung. Es braucht dazu allerdings auch den Willen, sie zu verstehen, zu beherrschen und für sich konsequent einzusetzen. Gleichzeitig ist die breitestmögliche Nutzung all dessen, was Digitalisierung ermöglicht, zentrale Voraussetzung dafür, die Technologieführerschaft weiter voranzutreiben.
Die Anwendungsmöglichkeiten sind schier unerschöpflich. Ein anderes Beispiel: Am Standort Linz befindet sich ein zentrales Digitalisierungsprojekt nach acht Jahren Entwicklung und Umsetzung gerade in der finalen Implementierungsphase. Für den gesamten Produktionsprozess, vom Hochofen bis zum Autoteil, der an den Kunden geht, können alle Informationen in jeder gewünschten Korrelation abgerufen werden – Kosten, Effizienz, Taktzeiten, alle Spezifikationen des Produktes über den gesamten Herstellungsverlauf. Die perfekte Verknüpfung und Nutzung von Daten. Die Kunst dabei: die relevanten Informationen zu erkennen und zu verwenden, d. h. irrelevante erst gar nicht erscheinen zu lassen. Digitalisierung wird so zur künstlichen Intelligenz.
Letztlich stellt sich für die langfristige Zukunft die Frage, warum es nicht möglich sein sollte, den Gesamtprozess der Produkterstellung voll zu digitalisieren. Vom Rohstoff- abbau, z. B. am Erzberg oder in der Ukraine, bis zum fertigen, an den Kunden ausge- lieferten Produkt. Viele der einzelnen Schritte sind längst zumindest automatisiert, sie müssten „nur“ zu einem Gesamtprozess verbunden werden.
Ein Symbol für fortschreitende Digitalisierung ist auch Additive Manufacturing, ver- einfacht 3D-Druck genannt. Statt wie bisher ein Werkstück aus einem Block herauszu- fräsen oder auch aus unterschiedlichsten Einzelteilen zusammenzubauen, werden dabei gesamte Bauteile – also Endprodukte – Schicht für Schicht aus Werkstoffen in Pulverform aufgebaut. Die voestalpine hat sich nach dem Motto „Schuster, bleib bei deinem Leisten“ auf metallischen 3D-Druck spezialisiert und betreibt entsprechende Forschungszentren in Düsseldorf, Singapur, Taiwan und Toronto. Das qualitativ höchst anspruchsvolle Metallpulver dafür erzeugt sie selbst in Schweden und Österreich.
Der metallische 3D-Druck eignet sich nicht für Massenfertigungen, das würde sich nicht rechnen. Aber für komplexe Einzelstücke, Kleinserien oder Produkte mit extremen Anforderungen ist der 3D-Druck hervorragend geeignet und erschließt neue Anwen- dungsbereiche. Er ist also eine wertvolle Ergänzung bisheriger Produktionsverfahren. Die Vision, dass einmal ganze Autos fertig aus dem Drucker kommen, wird aber auch in Zukunft eine Vision bleiben.
Was die Zukunft der Digitalisierung noch alles bringen und verändern wird, verrät nicht einmal der Blick in die Kristallkugel. Im Lauf der letzten Jahre sind schon viele Dinge passiert, die lange für unmöglich gehalten wurden – positive, aber auch negative. Bei all diesen Überlegungen ist aber eines klar – auch wenn es bei manchen anders klingen mag: Ohne Menschen wird es auch in Zukunft nicht gehen, ihre Rolle hat aber schon längst begonnen, sich zu ändern. Die körperliche Arbeit wird weniger, übrigens seit ewigen Zeiten ein zentrales Ziel in der industriellen Fertigung. Sie wird schrittweise ersetzt durch neue Funktionen in den Bereichen Überwachung, Entwicklung, Moderation, Koordination, Planung und vielen anderen mehr. Was dabei aber auch klar und im voestalpine-Konzern allen bewusst ist: Wir müssen die Qualifikation, die Ausbildung unserer Mitarbeiter diesem Wandel konsequent anpassen, als Voraussetzung einer erfolgreichen Transformation in die digitale Zukunft. Das braucht bei allen, dem Unternehmen genauso wie den Mitarbeitern, Flexibilität und Offenheit; vor allem die Bereitschaft, immer wieder Neues zu lernen bzw. zu vermitteln. Dass diese Transformation auch im großen Stil ohne Verlierer möglich ist, hat die Drahtstraße in Donawitz bewiesen und ist das neue Stahlwerk in Kapfenberg gerade dabei, aufs Neue zu beweisen – allen anderslautenden Meinungen zum Trotz.
Immer schon sind viele Dinge passiert, die lange für unmöglich gehalten worden sind. Deshalb gilt es, dranzubleiben und die Nase vorn zu haben.
Additive Manufacturing, der metallische 3D-Druck, ist ein Symbol für die fortschreitende Digitalisierung. Ganze Bauteile werden dabei digital auf Basis von Daten aus Werkstoffen in Pulver- form Schicht für Schicht aufge- baut. Die voestalpine will dabei die ganze Wertschöpfungskette vom Pulver bis zum Endprodukt komplett beherrschen.